Schlaun-Fest 2015

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Schlaun-Fest 2015 2023-05-25T11:55:26+02:00

Das Schlaun-Fest 2015 am 7.06.2015 im Erbdrostenhof Münster

Vortrag von Dr.-Ing. Wolfgang Bachmann

Über Architektur und darüber hinaus

Liebe Studentinnen und Studenten, Architektinnen und Architekten, meine Damen und Herren!

Nachdem meine Vorredner der letzten Jahre, Harald Martenstein und Gerhard Matzig, auch keine praktizierenden Architekten waren, kann ich mir die Koketterie sparen, auf meine solide Unkenntnis Ihrer künftigen Bürotätigkeit hinzuweisen. Ich werde mich auch nicht damit aufhalten, Ihnen von früher zu erzählen, obwohl es ja ganz unterhaltsam sein kann, über eingetrocknete Rapidographen, störrische Kurvenlineale und die Erfahrungen mit den batterieschwachen Taschenrechnern zu berichten – wenn mein Vater aus seinen ersten Berufsjahren erzählte, waren es Geschichten aus dem Krieg. Insofern können wir uns immerhin über einen Fortschritt freuen.

Ich will stattdessen an einige Zündstufen in der Architekturdebatte erinnern, die der Zieldefinition oder der Interpretation des Bauens für einige Zeit eine gewisse Flughöhe verliehen, sie auf neue Umlaufbahnen schickten – oder einfach verglühten. Günter Bock definierte Architektur „als das Amalgam von Zweckmäßigkeit und Bedeutung“. Das hat Architekten und ihre Entourage an den Hochschulen und beim Feuilleton ermuntert, umbauten Raum mit einem gewissen Bildungskanon zu verbinden. Es heißt, wie es Arno Lederer formulierte, dass die “Qualität von Architektur […] nicht von ihren inneren technischen Voraussetzungen“ abhängt, „sondern zuerst von den gesellschaftlichen Zuständen, unter denen sie entsteht“. Diese Bedingungen und Voraussetzungen zu verändern, ist eine Sache. Es beginnt damit, dass man die Architektur mit Attributen verbindet. Damit sind wir Schreiber hinlänglich beschäftigt, aber auch die Architekten selbst überlassen die Erläuterung ihrer Arbeiten nicht dem ästhetischen, praktischen Spürsinn des Publikums. Es gibt ja immer was zu sagen. (Unverwüstlich ist in ihren Erläuterungsberichten der Satz: „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt der Planung.“) Architekten begreifen sich zwar, so Peter Neitzke, „vorrangig weder als Zeitdiagnostiker, als Wissenschaftler oder gar als Politiker, sondern als  – schöpferisch inspirierte – Tatmenschen“. Doch es gehört zu ihrer theoretischen Konvention und sozialen Legitimation, ihren Gebäuden Rollen zu geben. Sie sprechen und erläutern ihre Leistungen, verbinden sie in einer erstaunlichen Kontinuität mit gesellschaftlichen Vorstellungen und nehmen dabei unwillkürlich Realitätsferne in Kauf. Es mag daran liegen: „Sprache und Architektur haben mehr gemeinsam, als manch einer denkt. Wer einen Text nicht nur als Mitteilung verfasst, sondern durch die Wortwahl und Grammatik dem Inhalt eine besondere Bedeutung verleihen will, beginnt eine Tätigkeit des Ordnens, die der Architekt in ganz ähnlicher Weise vollbringt“, so erklärt es Arno Lederer.

Darüber möchte ich zu Ihnen sprechen. Der Titel meines Vortrags „Über Architektur und darüber hinaus“, ein Satz von Ulrich Conrads, ehemals Chefredakteur der Bauwelt, stand zunächst einmal als sinnfreier Platzhalter über meinen noch leeren Seiten. Inzwischen, denke ich, passt er ganz gut.

Ich will gleich bei der Bauwelt bleiben. Als ich Anfang der achtziger Jahre aus einem Architekturbüro zu den Redakteuren nach Berlin übergelaufen bin, war ich von jeder neuen Architektur begeistert, von Richard Meier, Norman Foster, Mario Botta und Coop Himmelblau. Das trug man damals. Die Reaktion der altgedienten Kollegen auf meine Entdeckungen war jedes Mal sehr verhalten. Man zog eine Schublade auf und holte ein paar alte Hefte heraus, um zu beweisen, dass es genau diese Architektur entweder schon früher gegeben hat – oder man sie nicht braucht, weil sie nichts taugt. Das war für mich eine deprimierende Begegnung: Wie konnte man nur so desinteressiert sein, so abgeklärt, ohne Neugier, ohne Erwartung? War es nicht jede Architektur wert, dass man ihr auf den Grund ginge und sich mit ihren Schöpfern gründlich auseinandersetzte?

Ich mache jetzt einen Generationensprung in die Gegenwart. Und bekenne, ich bin genau da angekommen. Natürlich interessiert mich Architektur nach wie vor. Aber es fällt inzwischen leicht, sich auf diese privaten Kategorien der Beurteilung zurückzuziehen:
1. Das kenne ich schon,
2. Das muss ich nicht mehr kennen.
Psychologisch lässt sich diese Schutzfunktion erklären. Sie dient der Selbstvergewisserung für eine absehbare Lebensspanne. Denn die unentbehrliche Semantik, das Karussell der Begriffe, auf dem man jahrzehntelang mitgefahren ist, macht einen schwindlig. Ehe man sich versieht, wird eine neue Losung ausgegeben oder ihre Deutung hat sich gewandelt.

Ende der 1960er Jahre hatte der Begriff „politisch“ Hochkonjunktur. Selbst gestandene Architekten wie Volkwin Marg erinnern, dass jedem Planen ein gesellschaftspolitischer Index angehängt wurde: „Architektur als Inszenierung für andere ist dem Wesen nach zutiefst politisch und nur dann gut, wenn sie soziale Güte aufweist“, heißt es in seiner 2008 erschienenen Textsammlung. Als Präsident des BDA hatte er 1983 zum sogenannten Nachrüstungsbeschluss der NATO das Manifest “Gegen den Bau von Schutzbunkern für Atomangriffe“ mit auf dem Weg gebracht. Die Architekten der Initiative betrachteten die Herstellung von Bunkern als „passives Annähern an den atomaren Krieg“ und widersetzten sich dem geplanten Zivilschutzgesetz. Inwieweit sich in der Architektur von gmp „soziale Güte“ ablesen lässt, wollen wir einmal dahingestellt sein lassen. Mir geht es lediglich um das Attribut „politisch“, das nach der Studentenbewegung auch Architekten wie selbstverständlich verwendeten. Sie meinten damit nicht ihre Standesinteressen, die HOAI oder das Wettbewerbswesen. Politisch sein bedeutete, dass man sich in seinem Berufsumfeld zu den sogenannten fortschrittlichen Kräften rechnete, dass man sich für die Menschen, denen es schlechter ging, engagierte. Soziales Wohnen und Städtebau ohne die bürgerliche Sehnsucht nach repräsentativem Spektakel stand deshalb bei Architekten (und Architekturzeitschriften) weit oben auf der Agenda. Ohne Parteizugehörigkeiten zu benennen, galt allgemein, was Heinrich Klotz einmal über Ulrich Conrads geschrieben hatte: „nach rechts stechend und links Stand suchend“. Das Wort „politisch“ hatte eine eindeutige Färbung. Natürlich dachten Architekten nicht an die Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien, wie die marxistischen Kader der Roten Zellen, Basis- und K-Gruppen an den Hochschulen forderten. Es handelte sich lediglich um eine Sympathie-Bekundung, die der Sehnsucht nach einem schwarzen Porsche nicht im Wege stand. Wenn man dagegen heute das Wort „politisch“ in einer Architekturzeitschrift findet, kann man sicher sein, dass es sich um ein epitheton ornans, um ein schmückendes Beiwort, handelt, dass es um nichts Genaues geht, schon gar nicht um Veränderung oder solidarische Parteinahme. Mit politisch wird lediglich neoliberale Wichtigkeit suggeriert, Baukultur behauptet, man verlässt den Elfenbeinturm der Architekten und täuscht Breitenwirkung vor.

Kurze Zeit darauf tauchte neben dem Begriff des Politischen die „Semiotik“ auf. Kein Vortrag, in dem man sich nicht mit Bense oder Eco sehen ließ, die Wissenschaftssprache beherrschte nun die Debatten. Mit Denotieren und Konnotieren erhielt die Architektur die Aura eines Laborversuchs, sie gehörte nun in ein ästhetisches Zeichensystem, ohne revolutionäres Interesse.
Ein anderes Attribut, das bald mitgeführt wurde, war der Begriff „Ökologie“ und seine verschärfte praktische Anwendung in der Baubiologie. Begleitet wurde diese alternative Orientierung von Sottisen über Latzhosen, Birkenstocksandalen und Getreidemühlen. Die Architekten, sofern sie sich allmählich für das Thema interessierten oder durch immer engere Energieeinspargesetze darauf gestoßen wurden, teilten sich in diejenigen, die Bescheidenheit, Einschränkung, Reduzierung des Energieverbrauchs als Leitvokabeln für ihre Entwürfe übernahmen, und solche, die auf den unaufhaltsamen technischen Fortschritt setzen. Also auf steigenden Komfort durch die automatische Steuerung mit technischen Apparaturen wie Wärmepumpen und Photovoltaik setzten. Diese schwer zu vereinbarenden Überzeugungen für Häuser mit kleinen Fenstern und dicken Wänden oder gläserne Twinface-Fassaden erreichten weltanschauliche Qualität und wurden durch die Wahl der Fachplaner unumstößlich. Inzwischen hat der Begriff der Ökologie eine zeitliche Dimension erreicht: Man denkt (oder spricht zumindest) von Lebenszyklen, subsummiert unter „Nachhaltigkeit“. Auch hier pflegen die Architekten einen persönlichen Interpretationsspielraum. Im einfachsten Fall sagen sie: Unsere Architektur ist zeitlos, handwerklich solide und gilt immer. Etwas Besseres man zum Ressourcenschonen gar nicht beitragen. Klimawandel? Gab es schon immer.

Die Architektur-Rhetorik hat sich damit längst nicht erschöpft. „Urban“ ist ein anderes dankbares Wort, das in keinem Erläuterungsbericht und keiner Jury-Beurteilung fehlen darf. Walter Siebel und Andreas Feldtkeller haben darauf hingewiesen, dass Städtebau zwar die Voraussetzung für das Entstehen von Urbanität bieten kann, dass man damit jedoch nur eine Verhaltensweise zwischen „Differenz und Widerspruch“, also eine atmosphärische Dimension, beschreiben kann und nicht die planerisch geschickte Inszenierung des Leerraums zwischen den Straßenfassaden. Eine Stadt ist nicht urban, München hat davon nicht mehr als Düsseldorf. Doch keiner weiß genau, was urban bedeutet, und das ist das Gute daran. Smarte Städter verstehen unter Urbanität, dass sie in der Fußgängerzone einen Media-Markt erreichen können, andere die Gelegenheit, auch Sonntags frische Brötchen und eine Latte zu bekommen, die nigerianische Migrantin, dass sie unbehelligt mir ihren Kindern auf einer Bank sitzen kann, ohne etwas kaufen zu müssen.
Das hehre Ziel ist die Wiedergewinnung der Europäischen Stadt, worunter die einen gerade Straßenfluchten, Plätze, einheitliche Baublöcke mit Satteldächern und Lochfassaden verstehen, die anderen ein vielfältiges, veränderliches  Nebeneinander funktional nicht vorbestimmter öffentlicher Räume für alle Teile der Bevölkerung. Mit „urban“ macht man nichts falsch, das passt immer zur guten Stadt. Wenn sie misslungen ist, fehlt Urbanität, wenn wir uns wohlfühlen, gibt es sie.

Dies ist das Auffallende an den die Architektur begleitenden Begriffen. Zunächst hatten sie eine typologische Funktion, sie benannten  eine Kategorie. Mit der Zeit und ihrer inständigen Verwendung wurde ihnen Wert und Qualität beigemessen. „Kultur“ gehört beispielsweise dazu, sie beschreibt jedoch lediglich „wie der ganze Mensch lebt und arbeitet“ und verlangt nicht, dass er schicklich mit Messer und Gabel essen kann und die zum Jackett passende Krawatte trägt. Oder eben „Ökologie“. Sie behandelte ursprünglich die Beziehung der Lebewesen mit ihrer unbelebten Umgebung, ganz leidenschaftslos. Also war auch die versiegelnde Asphaltierung einer Dorfstraße ein ökologischer Vorgang, der uns in seiner Auswirkung gleichgültig sein konnte. Allmählich wurde der Begriff unter Umweltverantwortung rubriziert. Ökologie war jetzt etwas Gutes, was dem Menschen das Weiterleben in Zeiten des Klimawandels ermöglichen sollte.

Viele Begriffe haben ein kurzes Leben und werden nur von einzelnen Autoren eine Weile kultiviert. Peter Eisenman, Patrick Schumacher und Stephan Trüby verdanken wir zahllose Einträge in ein unaussprechliches Rhetoriksystem, was durch die wechselseitige Verwendung des Deutschen und Englischen zusätzlich verumständlicht wird. Es gehört wohl zur Karriereplanung an den Hochschulen, durch neue Definitionen oder die Schürfung eigenwilliger Begriffe seiner Arbeit unverwechselbare Bedeutung zu geben. Mit solchen Eskapaden kann man zumindest sicher sein, dass einem niemand die Deutungshoheit streitig macht. Gerd de Bruyn hat zum Beispiel in einem durchaus sympathischen, originellen Text erläutert, dass es bisher gar keine „moderne Architektur“ gebe, geben könne, weil sie keine Errungenschaft, kein Produkt oder eine genuine Erfindung der Moderne sei. Da die Architektur bereits seit Jahrtausenden bestehe, dürfe man nur von einer „modernisierten Architektur“ sprechen, „und auf diese Weise den Erfordernissen fortschreitender Kulturentwicklung“ zu entsprechen, wenn wir die Bauschöpfungen meinen, die seit dem frühen letzten Jahrhunderts entstanden sind.

Solche  Zirkelschlüsse erinnern an Karl Marx’ Thesen über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Man könnte diese Forderung auf die Architektur übertragen.

Was auffällt: Die Architektur wird heute nicht mehr von der Suche nach einem Stilbegriff begleitet, da hat glücklicherweise Arnold Hausers Definition Bestand, dass erst nachfolgende Generationen die Möglichkeit haben werden, unser gegenwärtiges Bauen als Stil zu erkennen. Aber stellvertretend belegen wir die Architektur mit Attributen. Sie kann expressionistisch, strukturalistisch, organisch, diagrammatisch, parametrisch, performativ, frauenfreundlich, kindgerecht, anthropozentrisch, umweltbewusst, modernisiert, regionalistisch, selbstreferentiell, avantgardistisch, autopoietisch, politisch, kontextuell, enzyklopädisch, chreodologisch, reflexiv, kritisch rekonstruiert, ressourceneffizient, traditionalistisch, retrospektiv, alternativ, resilient, ayurvedisch, vegan … sein. Vielleicht auch alles zugleich?

Was diese Begriffe nicht beschreiben, ist wie Architektur funktioniert (Lücke schließend, Raum bildend, Weg führend…), was sie leistet (ordnen, bergen, abwehren…), wie sie anmutet (gemütlich, einladend, abweisend, unheimlich…), welche Qualität sie hat (groß, repräsentativ, banal…).

Stattdessen umgibt uns eine Kakophonie an Termini, die jedes Symposium zu einer babylonischen Sprachverwirrung machen. Und alle Saison kommen neue Vokabeln hinzu, um das Wunder der Architektur zu erklären. Dagegen hilft kein narratives Immunsystem. Der BDA, der Denkzirkel der Zunft zwischen Rotary-Club und Alpenverein, hat sich immer weise an Prognosen gewagt. 1983 forderte er Architekten, Politiker und Journalisten auf, sich Gedanken über „Die Utopie der nahen Zukunft zu machen“, nämlich über eine „Architektur im Jahr 2003“. Von heute besehen ist es natürlich leicht, die gutgemeinten, optimistisch getränkten Mutmaßungen der Autoren zu kritisieren. Einen Gedanken möchte ich jedoch aufgreifen, weil er noch immer Gültigkeit zu haben scheint. Hermann Glaser plädierte für die Faustformel des Selberbauens, des ökologischen und regionalen Bauens, unabhängig von Bauspekulanten, sozusagen systemunterlaufend. Maßstab für diese Deprofessionalisierung sei „nicht die Abschaffung der Bauberufe, sondern die Wiedergewinnung von Intelligenz und Urteilskraft in der gesamten wohnenden und gebäudenutzenden Bevölkerung“. Dazu passt, was der englische Architekturkritiker Martin Pawley in einer späten Phase seines Berufslebens herausgefunden hatte: „dass eines der wichtigsten Charakteristika von Architekturjournalismus das Gefühl von Wichtigkeit ist, das er seiner Mutterprofession für die Gesellschaft als Ganzes beimisst. Für den Architekturautor stehen Architekten und Architektur auf einer anderen Ebene als der Rest der Welt, die für Außenstehende so unmöglich zu verstehen ist wie das Leben auf einem Atom-U-Boot. Die Abgeschiedenheit beider Welten bringt illusorische Privilegien und Verantwortlichkeiten mit sich, die nichtsdestoweniger real erscheinen. Die Welt der Architektur ist wie die Welt des Atom-U-Boots mit gutem Grund von der Menschheit getrennt. Ihre jeweiligen Bewohner sind weniger gefangen denn besessen von fantastischen Machtmitteln, die viel zu gefährlich sind, um davon Gebrauch zu machen.“ Ich möchte an dieser Stelle, an der Schwelle zum Rentnertum, ein mea culpa anschließen, denn auch ich habe dazu beigetragen, die Architektur unter einer rätselhaften Klugscheißerei zu verstecken.

Aber was gäbe es zu sagen? Wie sollte man sich unter Fachleuten verständigen und vor allem zwischen Architekten und Laien-Bauherrschaft vermitteln, wenn Worte so beliebig sind? Aufschlussreich ist folgende Beobachtung: Manfred Sack, der im letzten Jahr verstorbene Architekturkritiker der ZEIT, hatte 1993 in seinem viel publizierten Vortrag „Von der Utopie, dem guten Geschmack und der Kultur des Bauherrn“ Partei für die Architekten ergriffen und „mehr Neugier, mehr einfallskräftige Courage bei den privaten und den öffentlichen, den investierenden und den politischen Bauherren“ verlangt, eine gebildete Bevölkerung, für die Architektur nicht bloß eine finanzielle Affäre sei, „sondern eine Angelegenheit der Bau-Kunst […], kurzum: eine Sache unseres Daseins“. Knapp zehn Jahre später beklagte Hanno Rauterberg, Sacks Nachfolger in der ZEIT-Redaktion, dass Architekten „sich als Stilpolizisten aufspielen“ und sich „als Märtyrer einer architekturungläubigen Zeit in eine selbstgewählte Isolation zurückziehen“. Sie täten so, „als sei die Architektur etwas Unumgängliches, eine Kunst, um die niemand herumkomme“. Stattdessen fordert Rauterberg: „Der Eigensinn der Bewohner, selbst ihre Sturheit

[muss]

das höchste Gut sein“.

Meine tour d’horizon endet also in einer Sackgasse. Ich habe Ihnen zunächst die Symptome beschrieben und das Problem, was sie verbergen, am Schluss genannt: die Schwierigkeit, Architektur zu vermitteln, „die Wiedergewinnung von Intelligenz und Urteilskraft in der … Bevölkerung“, um Glasers Satz zu wiederholen. Eine Erkenntnis meiner Arbeit ist, dass man mit Lösungsvorschlägen vorsichtig umgehen soll, dass Kritik an den Verhältnissen zwar ihren Sinn hat, aber der Kritiker keine Rezepte liefern darf. Seine Rolle ist die des Beobachters, des Chronisten, des Erzählers. Und deshalb möchte ich Ihnen zum Schluss eine kleine Geschichte vortragen, die vor einigen Jahren im Baumeister erschienen ist:

[lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich]

Die Seite eins,
Praktischer Arzt, praktischer Architekt
[29.03.02]

Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, geht man regelmäßiger zum Arzt. Er dokumentiert die Abnutzungserscheinungen und beruhigt einen mit seinen Ratschlägen. Mit der Zeit gewinnt man dabei einen gewissen Überblick über die Vertreter des Gesundheitswesens.

Da ist der Gründliche, der Schulmediziner. Er führt seine Untersuchungen durch leidenschaftslos und routiniert. Wie eine Autoinspektion: Tja, die Pumpe… Andere Ärzte lassen sich mehr von ihrer eigenen Berufserfahrung leiten. Egal, mit welchen Zipperlein der Patient kommt, ob Hühnerauge oder Hexenschuss: der Cholesterinspiegel muss beobachtet werden. Fetter Käse, Eier mit Speck, Sahnetorte – da ist der Herzinfarkt in Rufweite. Also vernünftig ernähren, der Rest kommt von allein. Ihm verwandt ist der Sportarzt. Er klopft einem bei der Untersuchung vertraulich auf den Bauch und sagt: Was schleppen wir (wir!) denn da mit uns herum? Laufen, Schwimmen, Radfahren – schon mal gehört? Und empfiehlt ein Gesundheitsprogramm, das an eine Wehrübung erinnert. Bliebe noch der Homöopath. In seinem Wartezimmer liegen die Kundenzeitschrift von Weleda und unlackiertes Holzspielzeug. Zur Begrüßung schaut er einem durchdringend in die Augen und führt mit Fangfragen in die Richtung, in der er sich auskennt. Ja, der Stress im Büro macht kaputt, die Schulden drücken aufs Kreuz, die Seitensprünge werfen Schatten auf die Seele, ich weiß. So entstehen die Krankheiten in unserer vermeintlich so aufgeklärten Welt…

Wichtig ist nun, wie Sie mit Ihrem Arzt umgehen – falls Sie nicht bloß zur Laufkundschaft gehören und eine Krankschreibung abholen wollen. Nein, Sie müssen mit Ihrem Arzt zusammenarbeiten. Er muss das Gefühl haben, dass Sie ihn brauchen, dass Sie sein Partner sind. Deshalb nicht Jammern, sondern vernünftig und heilungswillig Rat suchen. Dieser Arzt ist Experte. Erzählen Sie deshalb nie, was früher seine Kollegen geraten haben oder was in der Brigitte stand. Mit etwas Übung stellen Sie unauffällig ein Profil von sich her, das ihm die entsprechenden Schlussfolgerungen erlaubt. Hilfreich ist es, sich mit der neuesten Ausgabe des Pschyrembel, der als Brockhaus des Hypochonders gilt, zu präparieren. Steuern Sie Ihren Physikus ruhig ein wenig, er muss Ihnen alles sagen, was Sie beunruhigt. Weisen Sie auf seltene Nebenformen Ihrer möglichen Erkrankung hin, indem Sie einen nicht lokalisierbaren Schmerz versuchsweise einflechten. Sie müssen den Arzt aus seiner Routine holen, mit geschickter Rhetorik Aufmerksamkeit gewinnen, kurz: einen Fall versprechen. Vielleicht gibt es ja schon Bücher oder Kurse: Der erfolgreiche Arztbesuch oder ähnlich.

So weit, so gut. Jetzt noch einmal von vorne. Lesen Sie statt Arzt Architekt und statt Patient Bauherr. Gibt es Bauherren, die halbwegs einen Überblick über Architekten gewonnen haben, die ihre Charaktere und Marotten kennen? Oder bescheidener, die wenigstens ein paar Architekten kennen? Nein: die sich überhaupt einem Architekten anvertrauen und sich nicht selbst behelfen mit dubiosen Angeboten? Verirrt sich wirklich so ein Häuslebauer einmal in ein Architekturbüro, dann zeigt er sich völlig uneinsichtig, er sagt nicht, was ihm fehlt, sondern bestimmt, was er haben will. Und warum sein Haus, bei dessen Ausführung er auf höchste Sorgfalt, Einhaltung von Kosten und Terminen Wert lege, individuell, repräsentativ und gemütlich sein müsse. Bloß nicht so eine Kiste! Ein Architekturbuch hat er nie gelesen, kennt nur die Hütten in seiner Siedlung und auf Mallorca. Städtebau, Funktion, Ordnung, Tektonik, Symmetrie, Balance, ein Gespür für Raum und Atmosphäre, Wege und Orte, das materialgerechte Fügen von Bauteilen, die Haptik von Oberflächen, überhaupt die Ironie, das Drama des Bauens mit einem eigenschöpferischen Beitrag zu persiflieren, das ist ihm fremd. Er hat einen runden Esstisch, will von der Küche ins Wohnzimmer sehen, Bad und Klo bitte getrennt, ja? Die Kinderzimmer kriegen eine Verbindungstür, der Kachelofen grüne Kacheln. Unterm Dach ein Studio, im Keller ein Hobbyraum, gerne ein Wintergarten, falls das nicht zu teuer ist. Auf jeden Fall viel Holz! Eigentlich genau so wie bei Splittgerbers, Roglers und Wanningers.

Und der Architekt? Er versteht das alles, er will sich ja kein Denkmal setzen. Seine Zunft ergeht sich seit vierzig Jahren in Demutsgebärden, hat sich für Mitbestimmung eingesetzt, für Selbstbau, für Billigbau. Ja, wir können auch wohngesund, kinderfreundlich, frauenfreundlich, energiesparend, nachhaltig, wir liefern Grundrisse für Alleinerziehende, Doppelverdiener und Schwule. Nein, der Architekt ist nicht arrogant, er sucht das Gespräch mit dem Laien, der sich sein Habitat von ihm erschaffen lassen will. Darüber wird er regelmäßig krank und geht zum Arzt.
Gut, wenn er nicht ganz unvorbereitet ankommt – siehe oben.

Soweit diese Bobachtung.

Damit entlasse ich Sie. Sie haben sich für den merkwürdigen Beruf des Architekten entschieden. Nicht für den Arzt. Man wird Sie kritisch beobachten, Sie für einen Künstler halten, als Dienstleiter beschäftigen, als Sachbearbeiter honorieren – mit der unverschämten Gewissheit, dass Ihr Talent eine ersetzbare Größe ist. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie es aushalten und das Beste daraus machen.

Vielen Dank!